Meinung

Warum muss alles pflanzlich und natürlich sein?

Vorab: Ich finde Pflanzen toll! Einmal eingepflanzt, brauchen sie nur Licht, Luft und Wasser und schon wachsen und gedeihen sie ganz von alleine vor sich hin, sind manchmal essbar und sehen manchmal einfach schön aus. Sich nur von Licht und Wasser (oder Luft und Liebe) ernähren zu können, ist auch manch anderer Leute Traum, wird aber nicht funktionieren, weil ihnen das für die Photosynthese entscheidende Molekül fehlt und der Stoffwechsel von Pflanzen geringfügig von dem des Menschen abweicht. Aber das ist alles ein ganz anderes Thema.

Schon eine ganze Weile lang rege ich mich darüber auf, wenn Produkte damit beworben werden, nur „natürliche Zutaten“ oder „keine künstlichen Konservierungsstoffe“ zu enthalten oder sogar „rein pflanzlich“ zu sein. Das klingt nämlich ganz so, als sei alles Pflanzliche und Natürliche pauschal gut, alles Künstliche oder synthetisch Hergestellte pauschal schlecht. Was ein Blödsinn! Es gibt natürliche Konservierungsstoffe, die den stärksten und gesündesten Sportler aus den Latschen hauen würden und künstliche Konservierungsstoffe, die das garantiert nicht tun.

Ganz spontan fallen mir einige herrlich-giftige Produkte der Natur ein, ganz ohne künstliche Konservierungsstoffe und nur aus natürlichen Zutaten:

  • Arsen, Quecksilber, Polonium, drei Elemente mit großem Potential das Leben eines Menschen zu beenden, kommen sei eh und je ganz natürlich vor,
  • Botulinumtoxin, eine ganze Familie von stärksten Giften, wird ganz natürlich und unter biologischen Bedingungen von verschiedenen Bakterienstämmen gebildet und kam unter anderem als Kampfstoff zum Einsatz,
  • Batrachotoxin wird gewonnen aus der Haut südamerikanischer Pfeilgiftfrösche der Gattung Blattsteiger; ein Gramm reicht, um eine halbe Million Menschen sehr sicher auf die andere Seite des Flusses Styx zu befördern,
  • Rizin, nicht zuletzt durch die Serie Breaking Bad zu Bekanntheit gelangt, entsteht in den Samen des Wunderbaums; mit einem Gramm tötet mehr als 23 Tausend Menschen, je nachdem, wie es in den Körper gelangt.

Auf der anderen Seite sollte jedem wie Schuppen von den Augen fallen, wie sehr rein synthetische Produkte unser Leben bereichern:

  • Acetylsalicylsäure, besser bekannt als ASS oder Aspirin, sowie Ibuprofen und Ketamin, ein Narkotikum aus der Notfallmedizin, werden ausschließlich im Labor hergestellt und lindern tagtäglich die Schmerzen zigtausender Menschen,
  • Insulin, für viele Menschen lebensnotwendig, musste früher aus der Bauspeicheldrüse von Schweinen gewonnen werden. Für einen einzigen Diabetiker wurden die Bauspeicheldrüsen von ca. 50 Schweinen verarbeitet. Seit 1963 ist Schluss damit, weil der Stoff nun im Labor hergestellt werden kann.

Über die Medizin hinaus kommen so viele Farbstoffe, Aromen, Dünger und Textilfasern hinzu, ohne die unser Leben gar nicht mehr vorstellbar wäre. Und so viele von ihnen sind 100% künstlich – und das macht überhaupt nichts. Schließlich ist Kochsalz, das technisch durch die Reaktion von Natrium-Metall mit Chlorgas gebildet wird, nicht zu unterscheiden von Kochsalz, das aus Meerwasser gewonnen oder aus Bergwerken gefördert wird. In jedem Fall handelt es sich um Natriumchlorid. Zugegeben: Meersalz und Gebirgssalze dürften darüber hinaus mit Verunreinigungen versehen sein, die das künstliche Salz nicht hat. Aber darin sehe ich bestimmt keinen Vorteil! Höchstens für den Hersteller, denn der verkauft das weniger reine Kochsalz erheblich teurer als das davon nicht unterscheidbare Kochsalz aus der Fabrik.

Den Anlass zu diesem Text hat eine Recherche über den Süßstoff Stevia gegeben, der ganz toll und vor allem viel besser als herkömmlicher Zucker sein soll, weil er – klar – „pflanzlich“ ist. ACH WAS! Habt ihr schon mal von Zuckerrohr oder der Zuckerrübe gehört? Aus denen wird nämlich unser gewöhnlicher Haushaltszucker hergestellt. Und das Beste daran: Das sind auch Pflanzen! Und trotzdem bekommen Menschen Karies, Diabetes, Adipositas, Herzinfarkte, Alzheimer, ADHS und sonst noch etwas, für das Zucker verantwortlich gemacht wird. Ändert die Tatsache, dass der Zucker pflanzlich ist, etwas daran? Nö.

Um die immer noch schneller wachsende Menschheit ernähren zu können benötigen wir Dünger. Und so viel Essen, wie produziert werden muss, kann mit allen natürlichen Düngemittelvorräten der Welt nicht gedüngt werden. Wie gelingt uns das trotzdem? Genau. Mit künstlichem Dünger.

Wer bewirkt, dass dort, wo bisher ein Halm wuchs, nunmehr zwei Halme wachsen, der hat mehr für ein Volk geleistet als ein Feldherr, der eine Schlacht gewann

Friedrich II (1712-1786)

Fritz Haber und Carl Bosch haben Anfang des 20. Jahrhunderts in einem nach ihnen benannten Verfahren die Ammoniaksynthese aus atmosphärischem Stickstoff und Wasserstoff industrialisiert. Seitdem sorgen jährlich 135 Millionen Tonnen des Gases Ammoniak als Kernbestandteil von Dünger dafür, dass wir Essen auf den Tisch kriegen. Es stimmt, Ammoniak ist sehr giftig – aber es ist genauso giftig wie Ammoniak, das Bestandteil des Harnstoffs in unserem eigenen, voll-biologisch hergestellten und vollkommen natürlichen Urin ist. Nicht mehr und nicht weniger.

Noch ein Beispiel für natürlich vs. künstlich: Vanillin ist der wichtigste Aromastoff der Welt. Für ein Kilogramm Vanille legt man derzeit rund 1.000 und 3.200 Euro auf den Tisch. „Quatsch!“, höre ich schon rufen: „Auf Amazon gibt’s so viel für 40 Euro!“. Aber da hat jemand nicht genau gelesen: Vanille wächst in den Schoten einer Orchideen-artigen Pflanze, deren Zucht riesigen Aufwand erfordert, beispielsweise deshalb, weil in den ertragreichen Anbaugebieten die Bestäuber gar nicht leben, die die Vanilleblüten bestäuben könnten. Dieser Vorgang muss also händisch erfolgen. Was es dagegen auf Amazon zu kaufen gibt und beispielsweise im Vanilleeis, Vanillepudding und Vanillezucker steckt, ist Vanillin, der Hauptaromastoff der Vanilleschote. Und der wird großtechnisch, kostengünstig und vollsynthetisch produziert: 14.960 Tonnen jedes Jahr. Das Vanillin aus den natürlich gewachsenen Schoten summiert sich zu nur 40 Tonnen. Und der Witz daran: Das Molekül ist wieder dasselbe, eins zu eins, kein Unterschied zwischen natürlichem und synthetischen Vanillin. Dass man trotzdem einen Unterschied schmeckt, wenn man synthetisches Vanillin mit dem Geschmack von Vanilleschoten vergleicht, liegt daran, dass in letzterer noch ein paar weitere Stoffe zusätzlich stecken. Aber nochmal: Das macht das synthetische Vanillin kein Bisschen schlechter als das natürliche.

Vergleich zweier Vanillin-Moleküle
Vergleich zweier Vanillin-Moleküle: a) Synthetisch hergestelltes Vanillin aus dem Labor; b) Natürliches, pflanzliches, in einer Vanille-Schote gebildetes Vanillin

Und zum Schluss noch eine ganz persönliche Meinung: Mir ist es viel lieber, ein Medikament zu bekommen, das 100% künstlich ist, dafür aber mit modernen Mess- und Herstellungsverfahren einwandfrei und sauber hergestellt werden kann als eines, das zwar ganz natürlich gewachsen ist, dann aber aus der Hirnanhangsdrüse von Schafen gewonnen wird.

Ein Gedanke zu „Warum muss alles pflanzlich und natürlich sein?

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