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In der Stadt erkennst du, wo die Freiheit auf dich wartet

„Geh in die Stadt“, sagten sie, „dann weißt du, wo du echte Freiheit findest“.
Also ging ich in die Stadt, um zu schauen, wo ich echte Freiheit finden würde.

In der Stadt fand ich jedoch nicht mal einen Parkplatz, nur einen mürrischen Anwohner, der mich belehrte, nicht unnötigerweise durch die Straßen zu fahren, sondern mir zügiger einen Parkplatz zu suchen als ich es gerade tat.

Dafür fand ich die Freiheit, ein Zimmer zum Preis einer ganzen Wohnung mieten zu dürfen. Mangels Alternativen.
In der Stadt fand ich die Freiheit, aus zwei Zeitfenstern täglich auswählen zu dürfen, wann ich eine Gardinenstange anbringe. Nur nicht Sonntags.

In der Stadt war ich so frei, einen von sieben Tagen aussuchen zu dürfen, an dem ich einen Strafzettel bezahlen durfte, den ich durch Parken vor meiner eigenen Haustür erworben hatte, weil mir der Anwohnerparkausweis fehlte.
Den Garten, den niemand nutze, durfte ich nicht betreten. Die Büsche, die mein Fenster verdunkelten, durfte ich nicht schneiden, weil sie in dem Garten wuchsen, den ich nicht betreten durfte, obwohl ihn niemand nutzte.

Ich war so frei, dass ich den Hausflur säubern durfte, weil sich kein anderer Mieter dafür verantwortlich fühlte.
Und ich war so frei, auf eigene Kosten Möbel aus meinem Kellerabteil entsorgen zu dürfen, weil kein Vormieter sich dieser Freiheit bewusst war.

Freiheit!

Freiheit auf sechszehn Quadratmeter zwischen der klackernden Gastherme, dem schreienden Kind hinter der nächsten Wand und vor dem Fenster, in das abends vierundzwanzig Augenpaare aus gegenüberliegenden Gebäuden schauten.
Und Freiheit bis sage und schriebe zweiundzwanzig Uhr Musik in diesem Zimmer hören zu dürfen, bevor ich frei genug bin, der Polizei Rede und Antwort für den verursachten Lärm stehen zu müssen.

Endlich frei sein, zwischen ständig wechselnden, mehrheitlich fremden Leuten zu wohnen, deren Ableben womöglich irgendwann durch üblichen Geruch auffallen würde, der unter der Tür hervortrat.

Man wohnte nur einen Katzensprung von jeder erdenklichen Örtlichkeit entfernt und hatte trotzdem sehr viel Gelegenheit, sich über diese Freiheit im Bus, auf dem Fahrrad oder im Auto vor lauter roten Ampeln oder im Berufsverkehr zu freuen.


Ich brauche eine Auszeit und ging für eine Weile zurück auf das platte Land. An den Ort, über den die Leute sagten, ich solle lieber in die Stadt gehen, um dort die Freiheit zu finden.
Also fand ich die althergebrachten, von Traditionen getragenen Zwänge vor.

Ich war gezwungen, einfach irgendwo zu parken. Und zwei Nachbarn, die gerade vorbeiradelten, begrüßten mich freudestrahlend als einer von ihnen. Als ein Unwetter dicke Hagelkörner brachte, parkte ich das Auto ohne zu fragen unter einem Abdach eines anderen und wurde von ihm zum Dank auch noch zu Kaffee und Kuchen eingeladen.
Hier konnte ich den Bohrer hervorholen, Musik bis zur Taubheit konsumieren und meine Wände malträtieren, egal ob montagnachts um vier Uhr oder Sonntagmittags um zwölf.

Unter dem Zwang des konservativen Lebens im Grünen musste ich angesichts eines bedrohlichen Mangels kleinerer Wohnungen zwanzigmal so viel Fläche bewohnen wie ich in der Stadt hätte bezahlen können und war gezwungen, in einem einhundertfünfundzwanzig mal so großen Garten zu tun und zu lassen, was ich wollte.
Für Haus und Hof und Garten und sogar für die öffentlichen Grünstreifen, Wege und Pflanzen dahinter fühlte man sich als Gemeinschaft verantwortlich. Müll wurde gemeinsam aufgesammelt, man half einander beim Brennholzholen, beim Birnenpflücken, beim Rasenmähen.

Mit der augenzwinkernden Polizei, der Feuerwehr, dem Ordnungsamt und dem Bürgermeister musste man per Du sein; man musste akzeptieren, dass die Sachbearbeiterin des Einwohnermeldeamts einen schon als Siebenjährigen kannte und damals das Spielen von Musikinstrumenten beigebracht hat.

Unfreiheit!

Beklemmende Unfreiheit, wohin man schaute. Ging ein Nachbar auf Reisen, musste man ertragen, dass er kurz Bescheid sagte, damit man sich nicht sorgte. Meldete ein Nachbar sich mal nicht, sah man kurz nach dem Rechten.
Und immer wieder diese altbackenden Gebräuche. Bekam eine Frau von Nebenan ein Kind, wechselten die anderen Frauen sich mit dem Kochen für die junge Mutter ab; heiratete jemand, feierte jeder mit; feierte jemand Geburtstag, wurde gesungen; verstarb jemand, kümmerte sich jemand um die nötigen Besorgungen und griff der Familie unter die Arme.

Katzensprung? Oh, nein. Die schwache Infrastruktur machte alle Wege dreimal so lang wie sie in der Stadt gewesen waren. Gut, dass man hier mangels Ampeln, Staus oder hohem Verkehrsaufkommen diese langen Wege genauso schnell zurücklegte wie die kurzen in der Stadt, sodass man sich nicht lange darüber ärgern konnte.


„Geh in die Stadt“, sagten sie, „dann weißt du, wo du echte Freiheit findest“.
Also ging ich in die Stadt. Danach wusste ich, wo ich echte Freiheit finden würde.

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