Einsatz: Eine gar hoheitliche Ölspur
Öl auf Straße lautete das Stichwort, das auf dem Melder stand. Auf einer einzelnen Straße im Norden unserer kleinen Stadt sollte etwas Öl, Diesel oder Benzin ausgelaufen sein. Sowas passierte immer mal wieder. Oft waren Traktoren, LKW oder Busse dafür verantwortlich. Die Politik stritt sich seit Jahren darüber, ob es eine Aufgabe der Feuerwehr war, die Straße zu reinigen oder nicht. Der aktuelle Stand war, dass es bald nicht mehr unsere Aufgabe sein sollte, aber die Feuerwehr in jedem Fall zur Gefahrenabwehr die Straße sperren sollte. Motorradfahrer waren nämlich schon häufig auf den schmierigen Ölflecken ausgerutscht und dabei verletzt oder getötet worden.
Ich hatte gerade einen PKW-Anhänger an mein Auto gehängt, Stecker und Drahtschlaufe befestigt. Das Auto war vorwärts eingeparkt, bis zur Ausfahrt waren fünfzig Meter im Rückwärtsgang notwendig. Klar, dass dreißig Tage zuvor nichts passiert war und in genau diesem Moment der Melder schellen musste. Ich hatte keine Zeit, einen Blick darauf zu werfen. Geistesgegenwärtig hob ich den Anhänger vom Boden und zerrte ihn möglichst weit aus der schmalen Einfahrt, rannte zur – natürlich verschlossenen – Haustüre, holte den Autoschlüssel für den Zweitwagen, verschloss die Tür wieder, parkte den Wagen mühselig aus, quetschte mich am anderen PKW mit Anhänger vorbei und war auf der Straße Richtung Gerätehaus. Puh. Das war bestimmt schon eine Minute. Ich drückte die Daumen, dass es kein Einsatz war, bei dem es am Ende auf diese Minute ankam. Der Blick auf die Alarmmeldung ließ mich durchatmen: Eine Ölspur. Das war in Ordnung.
Am Gerätehaus angekommen offenbarte sich mal wieder die dünne Personaldecke der freiwilligen Feuerwehren an Werktagen. Wir waren vier Mann. Allerdings, muss man sagen, war auch nur eine winzige Gruppe von Kräften alarmiert worden und die Ölspur war im anderen Ortsteil, in dem deutlich mehr Kameraden zusätzlich alarmiert worden waren. Und wie es sich für eine Ölspur auf dem Lande gehört, wo eine große Feuerwehr vielleicht nur ein oder zwei kleine Fahrzeuge hingeschickt hätte, ballerten wir mit einem 14 Tonnen schweren Löschgruppenfahrzeug unter Blaulicht und Einsatzhorn fünf Kilometer weit durch Stadt und Land. Wie die Kinder freuten sich der Rettungsdienstler und der Berufsfeuerwehrmann, die am Steuer und auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatten, als wäre es nicht ihr beruflicher Alltag. Hinten saßen ich und einmal wieder mein bester Freund aus Kindertagen, der aus unerfindlichen Gründen immer dann in seinem Heimatort war, wenn nach Wochen wieder ein Alarm schrillte.
Ich möchte kurz an die Schweinchen in der Güllegrube erinnern, die sich als sechs schlachtreife Sauen entpuppten, die gerettet werden mussten. Denn: Vor Ort offenbarte sich der kleine Ölfleck als ein Schlachtfeld. Die Straßen im Ort sahen aus, als wäre ein Tanklaster aufgeschlitzt worden. Aus erwarteten höchstens fünfzig Metern wurden 2 Kilometer Ölspur. Super.
Das Vorgehen war klar: Eine Ölspur wurde mit Bindemittel bestreut, eingefegt und anschließend mit einer Kehrmaschine oder mit Schüppen aufgenommen und zur Entsorgung abtransportiert, während man verhindern musste, dass Motorradfahrer darauf ausrutschten oder dass allzu viele unserer Männer dabei überfahren wurden. Nun war es nur eine Frage der Organisation: Wie ging man vor, wenn man eine Ölspur hatte, die sich durch die gesamte Stadt und ausgerechnet über die Hauptstraßen erstreckte? In der Dienstvorschrift wäre geplant gewesen: Der Einsatzleiter teilt die Spur in Abschnitte ein, teilt Mannschaft, Fahrzeuge und Gerät den Abschnitten zu und diese kümmern sich dann nur um ihren Abschnitt. Die Realität sah in diesem Einsatz anders aus: Jeder Feuerwehrmann, der irgendwo ein rotes Auto sah, zog sich eine Gruppenführer-Weste über und fuhr mit ein paar Männern kreuz und quer durch die Stadt, begann wahllos Bindemittel zu verstreuen und wechselte, wenn ihm langweilig wurde, immer mal wieder den Standort, um woanders einen Teil der Ölspur halb fertig zu bearbeiten. Der Berufsfeuerwehrmann, der mein Fahrzeug führte und im Gegensatz zu den wilden Kleinstädtern und Dörflern wusste, wie man eine Ölspur auch organisatorisch bändigte, musste angesichts der Lage tief durchatmen.
Kurz: Es war Chaos! Sechs Feuerwehrfahrzeuge rollten durch die Stadt und verteilten mit ihren Reifen mehr Öl, als ihre Besatzungen entfernten. Endlich kam die Rettung. Ein Zugführer meines Löschzugs kam, sah – und schlug bei diesem Anblick zuerst einmal seinen Kopf aufs Lenkrad des Kommandowagens. Aber er sagte nichts, besetzte lediglich den Einsatzleitwagen und verteilte Befehle. Endlich lief es. Die geballte Führungskraft und Autorität bändigte die wilden, selbsterklärten Fahrzeug-Häuptlinge und ließ sie endlich effektiv arbeiten.
Während nun auch ich und mein einer Kamerad unter den wachsamen Augen des Berufsfeuerwehrmanns mit dem Abstreuen der Ölspur begonnen hatten, ereilte uns eine einmalige Ehre. Die höchste, lokal-politische Prominenz der Stadt, unser Bürgermeister, lief uns zufällig über den Weg. Vielleicht war er von besorgen Mitbürgern gerufen worden, als diese uns arbeiten gesehen hatten. Und so schritten wir stolz, bewaffnet mit einem Düngemittelstreuer voller Ölbindemittel, in voller Brandschutzbekleidung und Helm (ganz wichtig!), vier Funkgeräten, einem 14 Tonnen schweren Löschgruppenfahrzeug, einem Berufsfeuerwehrmann, einem Rettungsassistenten und dem verdammten Bürgermeister durch die Innenstadt und bestreuten eine fünf bis 30 Zentimeter breite Ölspur. Mein Trupp-Kamerad ging stets ein paar Schritte, nahm dann mit professionell wirkender Geste eine Probe des Öls vom Boden, indem er mit einem Finger seines Handschuhs in die Lache fasste. Dann sah er sich den Stoff genau an, roch daran und bemerkte mit fachmännischem Ausdruck auf dem Gesicht: „Ja, das ist Öl. Hier müssen wir streuen!“. Das Bundesverdienstkreuz war uns sicher.
Schließlich war die Spur bekämpft, gefegt, aufgenommen und entsorgt. Die Stadt war gerettet. Wir rückten ein.